Der Libanon steckt in einer tiefen Krise, nicht erst seit der Explosion im Hafen von Beirut. Warum die Menschen seit einem Jahr für ein neues politisches System auf die Straße gehen.
Von Markus Schauta
Wenn es irgendwie geht, will Aimée Ghanem den Libanon nicht verlassen: „Für mich ist Beirut das Leben“. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin für eine ausländische Firma und hat dadurch ein gesichertes Einkommen. Doch viele im Libanon kämpfen ums finanzielle Überleben. „Ich verstehe, wenn Menschen das Land verlassen.“
International in den Schlagzeilen war der Libanon am 4. August, als eine heftige Explosion die Hauptstadt Beirut erschütterte. Mindestens 190 Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Die Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Hafenspeicher richtete Schäden in weiten Teilen der Stadt an. Es folgten Massenproteste.
Doch auch schon lange vor dem 4. August gab es Proteste. Ein Grund ist die Wirtschaftskrise, die das Land erfasst hat, und das im Jahr der Coronapandemie.
Die Inflationsrate stieg im August auf 120 Prozent. Die Wirtschaftskrise ließ die Ersparnisse der LibanesInnen verdampfen, Einkommen und Pensionen schrumpften. Ein Drittel der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze.
Wie kam es dazu? In den 1960er Jahren nannte man den Libanon „Schweiz des Nahen Ostens“, wegen der finanzstarken Banken, der noblen Clubs und der hohen Berge. Doch politische Spannungen entluden sich ab 1975 in einem Bürgerkrieg. Die Fronten verliefen zwischen Christen, Sunniten und Schiiten.
Israel und Syrien intervenierten. 15 Jahre lang wurde im Libanon gekämpft.Unter internationaler Vermittlung wurde 1989 in der saudi-arabischen Stadt Taif ein Friedensabkommen unterzeichnet.
Um zu verhindern, dass eine der ehemaligen Kriegsparteien die anderen politisch dominierte, vereinbarten sie eine gleichmäßige Sitzverteilung von muslimischen und christlichen Abgeordneten im Parlament. Die konfessionelle Machtaufteilung sah zudem vor, dass immer ein Maronit, also ein Vertreter der größten und ältesten christlichen Religionsgemeinschaft im Land, Präsident sein musste, nur ein Sunnit Ministerpräsident und nur ein Schiit Parlamentssprecher werden konnte.
Von Taif zur Krise. „In Taif kamen die Parteien überein, die Ressourcen des Staates untereinander aufzuteilen“, sagt Celine Merhej. Sie ist Rechtsanalystin und hat sich in ihrer Arbeit auf die Bekämpfung von Korruption spezialisiert. Die libanesischen BürgerInnen seien in Folge zu BittstellerInnen degradiert worden.
Das Problem: Die Regierungsparteien agieren nicht im Sinne eines Staates, der sich um alle BürgerInnen in gleicher Weise kümmert. Vielmehr würden sie sich als Patrone der jeweiligen Religions- und Konfessionsgemeinschaften sehen. Dieser Klientelismus zementierte die Macht der Parteiführer – und öffnete Raum für Korruption und Misswirtschaft.
Libanon
Hauptstadt: Beirut
Fläche: 10.452 km2 (Österreich: 83.878 km²)
EinwohnerInnen: 6,85 Millionen (2019), davon sind etwa 95 Prozent arabische und 4 Prozent armenische Bevölkerung, zudem gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, die größten davon sind maronitische ChristInnen sowie schiitische und sunnitische MuslimInnen. Ein Drittel der Bevölkerung sind Geflüchtete.
Human Development Index (HDI): Rang 80 von 189 (UNDP-Bericht 2018)
Gini-Koeffizient (Einkommensungleichheit): 31,8 (2010–2017)
BIP pro Kopf: 7.784 US-Dollar (2019, Österreich: 50.277 US-Dollar)
Regierungssystem: Der Libanon ist ein sogenannter paritätischer Staat: Das politische System ist geprägt vom religiösen Proporz, daraus resultiert ein großer Einfluss der Religionen.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges standen für 15 Jahre syrische Truppen im Libanon. Die Zivilgesellschaft wurde geheimdienstlich überwacht, Menschen verhaftet. Proteste waren selten. Das änderte sich mit dem Abzug der Truppen 2005.
Als Ghanem sich vor zehn Jahren politisch zu engagieren begann, protestierten die Menschen für die Zivilehe, für LGTB- und Frauenrechte. Dann kam das Jahr 2011, und wie in anderen arabischen Staaten gingen auch im Libanon die Menschen auf die Straße.
„Es war ein Wendepunkt“, betont Ghanem, die damals mitprotestierte. Die DemonstrantInnen beschränkten ihre Forderungen nicht wie bisher auf mehr Freiheiten für benachteiligte Gruppen oder einzelne Bereiche des politischen Lebens. Sie kritisierten das politische System als Ganzes und verlangten ein Ende des Konfessionalismus. Aber die Mobilisierung konnte nicht aufrechterhalten werden: „Wir scheiterten.“
Als einen Grund, warum 2011 die Proteste ins Leere verliefen, nennt die Anti-Korruptionsexpertin Merhej die damals relativ stabile ökonomische Situation.
Landesweite Proteste. Die nächste Welle an Protesten kam 2015, als die Regierung nicht in der Lage war, einer Müllkrise Herr zu werden.
Der Herbst 2019 brachte schließlich die größte Wirtschaftskrise, die das Land je erlebt hatte. Durch eine Devisenknappheit verlor das libanesische Pfund das erste Mal in zwanzig Jahren gegenüber dem Dollar an Wert.
Die Abwertung des Pfund ging Hand in Hand mit empfindlichen Preissteigerungen bei Waren und Dienstleistungen. „Den Menschen wurde klar, dass die Regierung nicht in der Lage war, der Krise etwas entgegenzusetzen“, so Ghanem.
Um die Staatseinkünfte zu erhöhen, schlugen Politikerinnen und Politiker neue Steuern auf Tabak, Benzin und die Nutzung des Chatdienstes WhatsApp vor. Das führte am 17. Oktober 2019 zu den größten landesweiten Protesten seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990.
Die Wut der Menschen zwang Ministerpräsident Saad Hariri zum Rücktritt. Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut Anfang August trat auch sein Nachfolger Hassan Diab zurück. Die Proteste dauern bis heute an.
Geteilte Aussichten. Merhej glaubt, dass es weniger die andauernden Proteste als vielmehr der Druck der internationalen Gemeinschaft war, der die Parteien dazu brachte, eine neue Regierung zu bilden. Jetzt stellen die internationalen Geber ein weiteres Mal in Aussicht, Geld ins Land zu pumpen, um den Staat zu retten.
Doch: „Die Gefahr ist groß, dass geschieht, was sich in den vergangenen 30 Jahren ständig wiederholte“, befürchtet Merhej: Das Geld werde die Wirtschaft kurzfristig stabilisieren, aber nichts an den eigentlichen Ursachen der Missstände ändern.
Einen Ausweg aus dem Klientelismus sieht der Politikwissenschaftler Maximilian Felsch. Er findet nicht, dass das konfessionelle Machtteilungssystem komplett aufgegeben werden müsste: „Die religiösen Gruppen sollten weiter an der Macht beteiligt sein, aber nicht in der Form, wie es jetzt stattfindet“, so der Politologe von der Haigazian-Universität in Beirut.
Sein Vorschlag: Die Schaffung eines Senats, eines Oberhauses des Parlaments, wie es bereits in der Verfassung angelegt ist. Bisher besteht mit der Abgeordnetenkammer ein Einkammersystem.
Felsch: „Man hätte dann ein Zwei-Kammer-Parlament, bei dem im Senat die Interessen der Religionsgemeinschaften vertreten sind. Diese Institution könnte eingreifen, wenn Minderheiteninteressen gefährdet sind, und einen Interessenausgleich herstellen.“
Die Bildung einer neuen Regierung scheiterte derweilen Ende September. Schiitische und sunnitische Parteien konnten sich nicht auf einen neuen Finanzminister einigen. Der Kampf um die Pfründe geht weiter, während der Staat in den Abgrund taumelt.
Markus Schauta berichtet für deutschsprachige Medien aus dem Nahen Osten, zuletzt aus dem Irak und Syrien.
Mehr dazu: Das Interview mit Politikwissenschaftler Maximilian Felsch, das im Oktober-Extrablatt erschien, gibt es hier zum Nachlesen: www.suedwind-magazin.at/das-system-ist-funktionsunfaehig
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